ich bin noch ein blutiger Anfänger und beschäftige mich mit dem Thema Bonsai bislang noch ausschließlich theoretisch, weil ich frühestens im April dazu kommen werde, mich wirklich mit echten Bäumchen zu beschäftigen. Aber ich habe in den letzten Wochen vieles gelesen, einiges an Videos und Bilder angeschaut.
Und ich habe mir so meine Gedanken gemacht, die ich gerne mal teilen möchte. Über Feedback würde ich mich freuen, vor allem um zu erfahren, ob ich das Prinzip verstanden habe. Damit meine ich vor allem die Gestaltungsprinzipien der verschiedenen Bonsai. Nicht die verschiedenen Formen wie aufrecht, frei aufrecht, Besenform, etc., sondern grundsätzlichere Prinzipien und Ideen.
Grundidee:
Walter Pall zitiert manchmal einen Japaner (dessen Name ich vergessen habe):
Die Kunst ist nicht, einen Baum wie einen Bonsai aussehen zu lassen,
sondern einen Bonsai wie einen Baum aussehen zu lassen.
Das Ziel ist also, einen Baum (ein verholzendes Gewächs) so zu gestalten, dass er in klein das darstellt, was ungestaltete, natürlich gewachsene Bäume in groß zeigen. Die kleinen Bäume sollen dazu noch interessant wirken. Schön sein, außergewöhnlich sein, oder eine "Geschichte erzählen". Der "vom Wind gepeitschte Baum", der "Baum auf dem Felsen", der "gefallene Baum" (Floßform), der "alte Baum", ...
Wenn ich jetzt mal die Hauptarbeit der täglichen Pflege außen vor lasse und mich direkt auf die Gestaltung konzentriere, dann stelle ich bestimmte, oft wiederkehrende Techniken fest. Da wird pinziert, geschnitten, gedrahtet, bestimmte Äste dürfen eine Weile wachsen, andere werden sofort geschnitten.
All diese Eingriffe stehen - so scheint es mir - in einem Spannungsfeld:
Manche Eingriffe helfen, den Baum klein zu halten (1) , andere richten sich eher an die menschliche Wahrnehmung. Entweder, um einem kleinen Baum wie einen großen wirken zu lassen (2), oder um ihn schön bzw. interessant aussehen zu lassen (3)
Mit "menschlicher Wahrnehmung" meine ich sowohl das Gefühl für Schönheit als auch das, was unser Auge und unsere Sehgewohnheiten täuscht und uns einen kleinen Baum vorgaukelt, der einem großen ähnelt. Wobei ich tatsächlich "vorgaukelt" meine, denn wenn man einen typischen Bonsai tatsächlich Maßstabsgetreu vergößern würde, sähe er nicht mehr realistisch aus.
- Ein ausgeprägtes Wurzelwerk (Nebari) z. B. sieht man in diesem Ausmaß an den wenigsten großen Bäumen, nur an wenigen sehr alten und ungewöhnlichen Bäumen. Der Standard ist meistens nur eine leichte Verdickung unten am Stamm und in der Regel sieht man das eigentliche Wurzelwerk nicht, und schon gar nicht so ausgeprägt. Dennoch gefällt ein ausgeprägtes Nebari am Bonsai unserem dem Auge (bzw. unserem Gehirn). Die Bäume wirken älter mit einem ausgeprägten Wurzelwerk. (eher 3 als 2)
- Das gleiche gilt z.B. für sehr gewundene oder geschundene Stammformen, ausgeprägte Wunden (Shari?) oder tote Äste (Jin?). Die Bäume sehen dadurch älter und interessanter aus. Hier geht es also auch eher darum, einen Baum interessanter zu machen, oder darum, einen künstlichen Eingriff z.B. drastischen Rückschnitt unsichtbar zu machen. Es sieht dann halt aus wie ein abgestorbener Ast, wie Bruch oder eine natürliche Wunde. Na gut: Manche Totholz-Orgien sehen nicht mehr aus wie wirkliche Bäume, aber sind immerhin beeindruckend. (eher 3 als 2)
- Andere Eingriffe dienen z.B. dazu, eine möglichst geschlossene Krone zu erreichen. Oder einzelne "Büschel", die in sich die geschlossene Form einer Krone imitieren. Ein junger, kleiner Baum hat im Vergleich viel dünnere und "spindelige" Äste, bildet keine Krone. Kürzt man die Äste, dreht sie, schneidet bestimmte Blätter ab, kann man eine geschlossene Krone erreichen, die dann aus der Entfernung tatsächlich einem großen Baum ähnelt. (2)
- Das gleiche gilt für bestimmte Drahtungen. Ein großer Nadelbaum hat in der Regel aufgrund der Schwerkraft eher hängende Zweige. Um das bei einem Bonsai zu erreichen, muss ich die kleinen Äste mit Draht dazu bringen, nach unten zu wachsen. Von selbst würden sie das in dieser Größe eben noch nicht tun. (2)
- Das Schneiden von Blättern scheint mir eher dazu zu dienen, den Baum klein zu halten (1), bzw. ihn zu animiren, kleine Blätter zu produzieren.
- Das gleiche Ziel gilt wohl für das Schneiden von Ästen oder Stamm-Teilen. Hier geht es wohl meistens darum, den Baum zu verkleinern (1), gelegentlich ist das Ziel beim Schneiden eine bestimmte Form, eine Veränderung im Stamm (Schwung, Verjüngung etc). Dann ist es eher Ziel "3" als Ziel "1".
Was meint Ihr dazu? Habe ich das Prinzip verstanden?
Herzliche Grüße, Gerald